Augen-blickliche Einsichten

Esra
Oezen

Ich konzentriere mich und fange an. Seite für Seite. Bei manchen Seiten lasse ich mir mehr Zeit als bei Anderen. Auf einen einzigen Blick kann ich sie erfassen - aber dann bleibt sie oberflächlich. Manche Seiten interessieren mich mehr als Andere, obwohl sich die Seiten voneinander kaum unterscheiden. Mal schaue ich auf die Doppelseite, mal auf die Papieroberfläche oder manchmal achte ich nur auf den Rand. Vielleicht höre ich auch nur das Papier, das Umblättern oder doch nur die Umgebungsgeräusche. Und vielleicht schaue ich mir die Seiten in Wahrheit gar nicht an.

Julian
Lautenbach

Stille Anwesenheit.
Über Gegenwart als Teilnahme in Esra Oezens Augenblickliche Einsichten

Am Anfang steht nur ein Stuhl an einem Tisch in einem Raum. Dieser Raum ist groß und ansonsten leer, seine Wände sind hoch und kahl. Esra Oezens Videoarbeit Augenblickliche Einsichten beginnt vor blanker Kulisse. Dann betritt die Künstlerin das Bild, dunkel gekleidet und damit der einzige Kontrast zu der hellen Leere des Ortes. Sie setzt sich an den Tisch, nimmt ein darauf liegendes Buch in die Hand und beginnt darin zu blättern. In den nächsten ungefähr acht Minuten können die Betrachtenden sie dabei beobachten, wie sie dort im Halbprofil sitzt und still Seite für Seite umschlägt. Ihre Bewegungen wirken konzentriert, sorgsam und trotz der Monotonie nicht mechanisch. Den jeweiligen Seiten und Doppelseiten schenkt sie mal länger, mal kürzer ihre Aufmerksamkeit. Doch aus der Perspektive der Zuschauenden bleibt verborgen, was diese Seiten interessanter oder weniger interessant machen könnte. Nur in den Momenten des Blätterns, in denen jeweils einen Augenblick lang der Teil einer Seite zu erkennen ist, lässt sich erahnen, was in dem Buch zu sehen ist ‒ oder eher, was nicht zu sehen ist. Denn die Künstlerin überfliegt keinen Text- und auch keinen Bildband. Stattdessen scheint das Buch immer wieder das gleiche Motiv einer gräulichen Fläche zu zeigen, die an den Rändern in eine dunkler werdende Schattierung verläuft. Das Nichts der Seiten spiegelt die Unbestimmtheit der nichtssagenden Szenerie. Diese doppelte Leere verschiebt den Fokus auf die Handlung an sich, auf den Vollzug einer Tätigkeit ohne klaren Inhalt. Gleichzeitig erzeugt der Mangel an ersichtlicher Bedeutung eine Spannung zwischen dem Akt und seiner Präsentation. Die Künstlerin sitzt nicht bühnenhaft frontal zur Kamera und inszeniert ihr Blättern nicht als demonstrative Geste. Und doch rückt sie die beinahe zurückgezogene Beiläufigkeit ihres Handelns in den Mittelpunkt. Dann steht sie schließlich auf, verlässt das Bild und der Loop beginnt von neuem.

Nach dem ersten Ansehen der Arbeit bleibt vielleicht eine Ratlosigkeit gegenüber dem Gesehenen, das nach Außen scheinbar abgeschlossen ist und auch am Ende keine simple Auflösung anbietet. Das eigentliche Sehen ‒ auch wenn die Seiten in dem Buch kaum etwas zeigen ‒ bleibt der Künstlerin selbst vorbehalten, während den Betrachtenden etwas verwehrt wird. Das lässt sich als Provokation empfinden, oder wenigstens als ein Spiel mit der Erwartung, das Frustration in Kauf nimmt. Die Arbeit konfrontiert diesen Reflex der Enttäuschung durch ihre konsequente Wiederholung. Dass sie das Zusehen zulässt und gleichzeitig verweigert, ist ein Widerspruch, dessen Überwindung eine andere Bedeutungsebene eröffnet. Denn vielleicht wird hier weniger das Vorenthaltende thematisiert, sondern vielmehr die Akte des Sehens und Zeigens selbst.

Eine Spur zu einer solchen Verständnisebene von Augenblickliche Einsichten legt auch der Titel der Arbeit. Hier geht es offenbar nicht um die bloße Erfassung einer Sache, sondern um eine Einsicht in sie. Diese Art der Erfahrung ist tiefgründiger. Sie beschreibt nicht nur ein Erblicken, sondern den Umgang mit einer ästhetischen Erscheinung. Dazwischen gibt es eine Diskrepanz, die fühlbar wird in den Momenten, in denen die Künstlerin eine der Seiten schnell überfliegt und dann in die darauffolgende ganz vertieft wirkt, obwohl sich die Motive kaum unterscheiden. Das mag absurd anmuten, aber belegt eine sinnliche Wahrnehmungsweise, die sich dem Objekt in dem Moment ganz hingibt. Sie erlaubt es, dass immer wieder andere Facetten hervor- oder zurücktreten, sich der Fokus auf Merkmale legt, die bloß für einen Augenblick von Interesse sind, bevor das Umblättern die Aufmerksamkeit zurücksetzt und der Vorgang erneut beginnt. Das vermeintlich Gleiche kann so auf ganz unterschiedliche Arten erscheinen, ohne jemals wirklich festgehalten zu werden.

Die bedruckten Seiten, die den Betrachtenden der Videoarbeit nur angedeutet werden, bezeugen diesen widersprüchlichen Akt des Sehens und Nichtsehens. Möglicherweise haben die Motive der diffusen Abbildungen eine Bedeutung für die Künstlerin, vielleicht halten sie etwas fest, funktionieren als ein Gedächtnis. Dann könnte es seine Tragik haben, dass diese gedruckten Aufzeichnungen so abstrakt verschlüsselt sind, dass sich den Betrachtenden des Videos kein Zugang zu dem Festgehaltenen ergibt. Aber gerade dieses Wissen um das Motiv würde das Erscheinen der Bilder unweigerlich ihrem gedachten Inhalt unterordnen. Dabei hat die verloren gegangene Gegenwart des festgehaltenen Momentes für das Publikum von Augenblickliche Einsichten keine Bedeutung. Hier vollzieht sich kein tragischer Akt, sondern die Transformation eines Augenblickes in verschiedene Zustände der Bewegung und der Statik. Das Motiv wird dem beweglichen Geschehen entnommen und formt sich im Foto zum Standbild, dessen Betrachtung wiederum im Zentrum eines Bewegtbildes (der Videoarbeit) steht. Das Nachwirken des Dagewesenen bekommt so seine ganz eigene, von unmittelbarem Sinn entkoppelte Dynamik eines Erscheinens in verschiedenen Formen.

Nicht ohne Ironie begegnen sich die Betrachtenden in diesem Prozess gewissermaßen selbst als eine Spiegelung der Handlungsfigur. Der Loop des Videos und das Blättern der Künstlerin sind einander inhaltlich und formal ähnlich. Beide verkörpern ein Reset und eine Wiederholung des Geschehens. Und beide vergegenwärtigen, dass nicht das Gesehene im Zentrum der Arbeit steht, sondern das Sehen selbst. Damit schließt Oezen an frühere Arbeiten, wie Aufzeichnung III oder Entstehendes und Sich-Auflösendes an, die mit der Übertragung medialen Materials und Darstellungsformen des Zeigens spielen. Diesen Werken ist gemeinsam, dass sie die Einbindung des Publikums über den paradoxen Umweg seiner vermeintlichen Ausgrenzung erreichen. Auch Augenblickliche Einsichten fordert von den Zuschauenden zunächst ein Akzeptieren der Verheimlichung. Erst danach wird verständlich, dass die Künstlerin sie einbezieht in die Reflexion des umfassenden Ablaufes von Zeigen und Sehen, der nur durch die Anwesenheit eines Publikums möglich wird. Es liegt an den Zuschauenden, diese Form der Teilnahme am Geschehen mit Bedeutung zu füllen. Ob sie sich vertieft auf die Nuancen des Gezeigten konzentrieren oder ihre Rolle als stille Teilnehmende als theatralen Auftritt begreifen, bleibt ganz ihnen überlassen.

In der digitalen Präsentation ihrer Arbeit erweitert die Künstlerin diese Idee vom Zurückspielen der Handlungsrolle medial um eine Ebene. Sie gibt den Zuschauenden die Möglichkeit, ihre Webcam freizuschalten und das eigene Bewegtbild als Einblendung neben dem laufenden Video zu sehen. Diese explizite Gleichzeitigkeit des Betrachtens und Selbst-Betrachtens spitzt noch einmal zu, was zuvor nur angedeutet wurde: Es kommt auf den eigenen Blick an, um die Erscheinung zu verwirklichen.

Augenblickliche
Einsichten

esraoezen.de
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Esra Oezen
Augenblickliche Einsichten

Programmierung
Philipp Dittrich

Texte
Julian Lautenbach
Esra Oezen

Heartfelt thanks
Fumiko Kikuchi
Heekeun Kim
Jiun Roh
Julian Lautenbach
Leiko Yamaguchi
Marie C Dann
Philipp Dittrich
Städtische Galerie Halle267

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